…unfertiges Märchen

„Wo bin ich?“ schoss ihm als erstes durch den Kopf, als er wieder zu sich kam, fand er sich doch in einer abgelegenen Holzhütte mitten im Nirgendwo im Wald wieder. Die letzte Erinnerung, die ihm in den Sinn kam war, dass er eben noch eine Webseite gestaltet hatte, in einem von ihm angemieteten Raum, den er benutzen konnte.

Er lag noch immer am Boden, während dem er sich in der Hütte umsah. An den Wänden hingen Taschen – er konnte erkennen, dass diese wohl gefilzt wurden. Er streckte seine Glieder und spürte, dass sie schmerzten. „Reiss dich zusammen und steh auf!“ befahl er sich selber. Keuchend schaffte er es, sich an einem herumstehenden Stuhl hochzuziehen. Nachdem er sich durch eingestaubte Spinnennetze gekämpft hatte, öffnete er schliesslich einen Fensterladen. Spärlich drang Licht in die Hütte – war es am Eindunkeln oder bereits kurz vor Sonnenaufgang? Er wusste es nicht. Er wusste bloss, dass er rausfinden musste, wieso und wie zum Teufel er hier gelandet war.  An der Wand gegenüber der – mutmasslichen – Haustüre hingen Plakate – es wurde von Hand darauf geschrieben. Was war das für eine Sprache? Russisch? Littauisch? Oder gar Finnisch? Er verstand kein Wort – wäre es wichtig, zu wissen was dort stand? Mulmige Gedanken stiegen in ihm auf. Je länger er in dieser Hütte stand, desto panischer wurde er. „Ich muss hier raus“ dachte er sich schweissgebadet und trat durch die Türe.

Vor ihm erstreckte sich ein endloser Wald. „Muss wohl kurz vor Sonnenaufgang sein“, versuchte er sich selber zu beruhigen. Links neben dem Eingang standen alte, verlotterte Hasenställe. „Tierfreundlich ist anders“ dachte er sich noch, bevor ihn ihm unbekannte Geräusche des Waldes aus seinen Gedanken holten. Blind vor Angst lief er los, mitten in den Wald hinein. Minuten oder Stunden – er konnte nicht sagen wie lange er bereits unterwegs war. Sein Tempo war schnell, und er war in diesem Moment dankbar, wöchentlich zum Lauftreff zu gehen, wurden seine Beine doch noch längst nicht müde. Irgendwann – menschlichen Bedürfnissen Rechnung tragend – musste er doch eine Pause einlegen. „Was ist das?“ sagte er mehr in die Wildnis hinaus denn zu sich selber. In seiner linken Brusttasche fand er eine kleine Digitalkamera. Zitternd vor Nervosität stellte er sie ein und wählte das Menü, in welchem er die geschossenen Fotos anschauen konnte. Die ersten paar Bilder waren wirklich schön – Landschaften und Nahaufnahmen. War dies ein Fotograf gewesen? Dann folgten einige schwarze Fotos – nichts, aber auch gar nichts war darauf erkennbar. Zaghaft drückte er auf „weiter“, der Kloss im Hals wurde immer grösser. Diffuse und verschwommene Bilder folgten auf die Schwarzen. Er sah sich am Gitarre spielen auf einem roten Sofa. „Seit wann kann ich denn ein Instrument spielen?“ – sein Unbehagen stieg fast ins Unermessliche. Das nächste Bild zeigte ihn tanzend inmitten einer Menschenmenge. Der Tanzstil war ihm gänzlich unbekannt – hatte er doch zwei linke Füsse. Sah es aus wie Kreistanz? Dies war das letzte Bild. Er versuchte sich krampfhaft zu beruhigen um seine aktuelle Situation mit diesen Bildern in Verbindung zu bringen. Kreistanz, fremde Sprachen in der Hütte, was zum Teufel soll das?

Seine Gedanken rauschten wie ein Schnellzug an ihm vorbei, Panik ergriff wieder die Macht über ihn. Er rannte los. Rannte, wie er noch nie im Leben gerannt war. „Nur raus aus diesem Wald“. Das Zeitgefühl hatte er längst verloren. Immer wieder kam ihm der Gedanke, wie schön ein Auto wäre, das – wie im Film – per Zufall irgendwo unter einem Baum stehen würde. Dass er noch keinen Führerschein hatte, das wäre ihm in diesem Moment auch egal gewesen.

Da! War das der Waldrand? Hoffnung keimte in ihm auf, liess ihn noch schneller laufen. Tatsächlich, ein Dorf! Doch welches? Er erkannte es nicht. Er bog in die Strasse ein, die quer durch das Dorf verlief. Aus einem Saal ertönte Gelächter. Er beschloss, hinein zu gehen. Es hatte Kuchen und Getränke auf dem Tisch, und einige Leute sassen um diesen Tisch herum, angeregt am Diskutieren. Die Türe fiel hinter ihm ins Schloss, und augenblicklich wurde alles still. „Sind sie der Neue für unseren Kaffeetreff?“ fragte eine etwas in die Jahre gekommene Dame. „Nein“ fauchte ein Herr Mitte Vierzig sie an und wandte sich dem Fremden zu. „Komm mit mir“ raunte der Mann und öffnete eine versteckte Türe am Ende des Saales. Überfordert und unfähig zu denken, folgte er ihm blindlings. Der geheime Raum bestand aus einem Tisch mit einem Computer, einem Holzstuhl und einer Tischlampe. „Setz dich!“ – er tat wie ihm befohlen wurde. Auf dem Bildschirm erschien ein Text mit Bildern – die Sprache war ihm fremd – einmal mehr. War dies ein Bewerbungsschreiben?

„Öffne den Ordner auf dem Desktop!“ – er tat es. Es erschien ein Stammbaum, mit Namen die er nicht kannte. Er las alles durch und unten links – war dies etwa sein Name? Wer waren all die Leute in seinem Stammbaum? Völlig verwirrt und entkräftet frage er: „warum? Was? Wie?“

„Es herrschten dereinst grosse Konflikte zwischen zwei Familien in unserem Dorf – unlösbare Differenzen…Doch, ich greife vor, mein Sohn. Spielen wir erst eine Runde Golf, bevor ich dir alles erzähle. Du kannst doch golfen?“ „N-n-nein“ stotterte er, erfolglos versuchend, all das irgendwo einzuordnen. Was war passiert? Wer war er und: „wo bin ich?“ schoss ihm  durch den Kopf, als er sich in diesem fremden Raum umsah.

Na, habe ich Ihnen ein – zugegebenermassen – unfertiges Märchen erzählt? Finden sie alle bereits angebotenen Ressourcen wieder? Hier finden Sie alle, ohne Märchen, ganz in Wahrheit: www.meinsfuerdichfueruns.ch

„Das Leben ist das schönste Märchen, denn darin kommen wir selber vor“ – Hans Christian Andersen, dänischer Dichter und Schriftsteller

 

Karin Morgenthaler

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