„grüezi“ zu sagen kann anstrengend sein

Ja, hier in diesem geschützten Kreis kann ich dies jetzt sagen. Ich bin auf dem Land aufgewachsen; ich bin ein Landei. Vielleicht mögen dies verklärte, romantische Erinnerungen sein, doch das Grüssen anderer Menschen auf der Strasse gehörte damals bei uns „zum guten Ton“.

Nun wohne ich schon lange nicht mehr auf dem Land, ich bin vom Landei zum Stadtkind herangewachsen. Und ich habe festgestellt, dass das Grüssen auf der Strasse nicht der Regel entspricht. Es ist nicht gänzlich verschwunden, entspricht jedoch auch nicht mehr der vorherrschenden Sitte.

Warum ist das so? Kann der Sozialraum „Land“ andere gesellschaftliche Regeln innehaben als der Sozialraum „Stadt“? Sind die Städter reservierter, und die Landbewohner freundlicher? Oh, es gäbe so viele Vorurteile und Annahmen, welche ich jetzt hervorbringen könnte – ich kenne ja nun beide Seiten gut.

Und nach jahrelanger Erfahrung und Beobachtung finde ich persönlich nicht, dass die Städter reservierter sind. Ganz pragmatisch nämlich ist es folgendermassen: ländliche Gebiete bewohnen weniger Menschen – man kennt sich. In der Stadt leben um ein vielfaches mehr Leute – und jeden zu grüssen beispielsweise würde in Heiserkeit und Stimmverlust enden. Stellen Sie sich vor, sie spazieren die Bahnhofstrasse in Zürich entlang, und grüssen jeden. Wetten, nach dreissig Minuten sind sie erschöpft? Im Sekundentakt „grüezi“ zu sagen – denke ich mir – kann anstrengend sein.

Ich für meinen Teil bin zu der Erkenntnis gekommen, dass dieses ländliche Gefühl in der Stadt auch existiert – nämlich in den jeweiligen Quartieren. Wie ich bereits einmal beschrieben habe, kennt „man sein Quartier“ und man wird ebenfalls erkannt. Und ich habe festgestellt, dass die Menschen, welche im selben Quartier wohnen, sich untereinander grüssen. Verlässt man dann das heimische Viertel, fällt das Grüssen oftmals weg – eben vielleicht ob der Menschenmasse, die einem entgegenkommt. Und ich glaube, die Stadt kann noch so gross sein – ein gewisses ländliches Gefühl kommt in den jeweiligen Quartieren trotzdem auf. Möchte man dann völlig anonym sein, verlässt man das Viertel und schnuppert in unbekannte Stadtbezirke hinein.

Und natürlich ist mir bewusst, dass es auch anders sein kann. Und dass ich nicht alle Parameter berücksichtigt habe. Und dass es auch Orte gibt, an denen man immer anonym ist – egal wie lange man dort bereits wohnhaft ist. Und während ich diesen Text geschrieben habe, habe ich mir Folgendes überlegt:

Wie wäre es denn, wenn wir alle beim nächsten Besuch in einer grossen Einkaufsstrasse in einer grossen Stadt einfach mal alle Menschen grüssen, die uns entgegen kommen? Vielleicht noch untermalt mit einem Lächeln? Vielleicht werden wir erstaunt sein über die Reaktionen oder das freudige Erwidern? Und – nun da der Herbst mit seinem nebligen Mantel doch noch die Schweiz erreicht hat – wärmen einen Gruss und ein freundliches Gesicht gleich das ganze Herz.

„Ein freundliches Wort kostet nichts, und dennoch ist es das Schönste aller Geschenke“ – Daphne du Maurier, britische Schriftstellerin

 

Karin Morgenthaler

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